
Nimmt man ein Bild aus seinem gewohnten Rahmen und rahmt es neu, treten oft ganz andere Aspekte in den Vordergrund. Man entdeckt Details, die man vorher gar nicht wahrgenommen hat und einzelne Aspekte können eine ganz andere Bedeutung gewinnen. Man erhält einen neuen Blick auf ein eigentlich bekanntes Bild. Ähnlich ist es beim Reframing in Coaching, Beratung und Therapie.
Perspektivenänderung als hilfreiche Intervention
Reframing ist eine Methode, in der eine Situation, ein Verhalten, eine Person oder eine Eigenschaft einen anderen „Rahmen“ (engl. frame) erhält. Damit einher geht die Möglichkeit einer Umdeutung und Neubewertung. Sie ist eine wichtige Grundlage systemischer Praxis. Wir neigen dazu, Situationen, Menschen und ihr Verhalten immer und ständig zu bewerten. Das passiert auf Basis von Zuschreibungen, die wir aufgrund unserer Erfahrungen und Sozialisation anwenden. Wir bewerten automatisch und kategorisieren Menschen und Situationen, genauso wie wir bewertet werden. Das ist nicht immer nett, aber durchaus menschlich.
Unterbrechung alter „Denkmuster“
Wem ist es nicht schonmal passiert, dass er oder sie beim Anblick eines teuren Autos davon ausging, dass die Besitzerin ganz sicher wohlhabend ist. Und das obwohl wir alle wissen, dass es genug Beispiele von Menschen gibt, die mit dicken Autos unterwegs sind und kaum wissen, wie sie die Miete im kommenden Monat bezahlen sollen. Die Verknüpfung „dickes Auto –dickes Bankkonto“ ist bei vielen fest eingebrannt.
Wie denkt der Mensch?
Das Gehirn ist darauf ausgelegt, Energie zu sparen. Deshalb nutzt es diese gewohnten (Denk-) Muster. Diese alten Muster sind wie Datenautobahnen. Ich sehe eine Situation und zackzack springt die gewohnte Bewertung an und ab damit in die vorgesehene Schublade. Bloß keine weitere Energie damit verschwenden. Dass von der Autobahn ein kleiner Feldweg abgeht, den man nehmen könnte, der eine ganz andere Perspektive eröffnen könnte, bleibt außerhalb der bewussten Wahrnehmung und wird vom Gehirn als irrelevant eingestuft. Es wäre nämlich wesentlich anstrengender, sich zu Fuß durch den verwilderten Weg zu schlagen, als mit 180 über die Autobahn so schnell wie möglich ans Ziel der Schubladenkategorie zu kommen.
Wie funktioniert Reframing?
Reframing bedeutet das Loslassen dieser gewohnten Deutungsmuster, das Infragestellen dieser alten Schubläden und damit die Möglichkeit der Umdeutung einer Situation. Man betrachtet das Ganze aus einem anderen Blickwinkel und stellt die ursprüngliche Bewertung der Situation damit infrage. Es geht dabei nicht darum, mit Gewalt Dinge rosa zu zeichen. Vielmehr geht es um eine Erweiterung des Blickwinkels und die Bereitschaft, Situationen und Menschen und die Zuschreibungen, die wir ihnen geben, zu hinterfragen und in einem anderen Licht zu sehen. Was, wenn alles auch anders gesehen werden oder gar ganz anders sein könnte? Was wenn ein scheinbar unsinniges Verhalten aus einer anderen Perspektive durchaus Sinn macht?
Beispielsituationen und mögliche Reframings
Streitendes Paar
Streit kann als Hinweis darauf gesehen werden, dass ein Paar nicht zusammenpasst oder dass sich ein/e Partner/in „falsch“ verhält. Es kann aber auch als Zeichen einer intensiven Beziehung, der Bedeutung füreinander oder von Verlustangst gesehen werden. Denn wenn uns etwas nicht wichtig ist, streiten wir nicht mehr, dann ist es uns in der Regel egal und wir können es leicht loslassen.
Teenager außer „Rand und Band“
Das rebellische Verhalten eines Teenagers kann als negative Grenzüberschreitung und Respektlosigkeit gesehen werden. Sehen wir das Verhalten in einem anderen Rahmen, kann man auch einen willensstarken aufrechten kritischen Menschen erkennen, der weiß, was er will. Oder auch als völlig altersgemäßen Entwicklungsschritt sehen, um sich von überbehütenden Eltern abzugrenzen und seinen eigenen Weg zu gehen.
Aufsässiges Verhalten eines Schülers
Ein unruhiger Schüler kann als Problem gesehen werden, der einfach nicht lernen will. Diese Unruhe kann aber auch darauf hindeuten, dass es sich um einen Menschen mit viel Power und Energie handelt, der sich beim stundenlangen Sitzen schlecht fokussieren kann, aber in Aktion eine tolle Idee nach der anderen entwickelt.
Im Boxring ist es vollkommen in Ordnung, wenn sich zwei Menschen auf die Nase hauen. Außerhalb des Boxrings ist dieses Verhalten sogar strafbar.
Wer Probleme lösen möchte, muss sich vom Problem lösen
Diese Beispiele zeigen, dass Situationen durchaus mehrere Deutungen zulassen. Das Spannende daran ist, dass so vermeintlich negativen Aspekten auf einmal positive Absichten oder Hintergründe zugeordnet werden können. Das bringt in Beratung und Therapie häufig eine Erleichterung, die Blockaden lösen kann und Möglichkeitsräume eröffnet. Reframing ist daher weniger eine Technik als eine Haltung. Man löst sich vom Problem und von der Defizitorientierung und richtet den Blick auf Chancen, Möglichkeiten, Ressourcen oder positive Lernerfahrungen. Es geht nicht mehr um die Kategorien „richtig“ und „falsch“, denn die Deutung eines Verhaltens oder Musters ergibt sich vielmehr aus der individuellen Perspektive und aus dem Kontext.
Eröffnung neuer Möglichkeitsräume
Befindet sich ein Mensch, der ohne Frage viele Schicksalsschläge erlitten hat, in einem Zustand der Verzweiflung, kann es helfen, gemeinsam zu schauen, wie der- oder diejenige es geschafft hat, nach jedem Schlag wieder aufzustehen. Das könnte ein Zeichen von großer Stärke und Resilienz gewertet werden. Oft sind Klienten/innen verblüfft oder irritiert, wenn ihnen in der Therapie diese alternativen Deutungsmuster angeboten werden. Das löst die Anspannung. Ein Reframing macht einen prägnanten Unterschied zur bisherigen Sicht auf die eigene Wirklichkeit. Es stellt in Frage, dass es nur diese eine Sicht auf die Dinge gibt. Reframing eröffnet Räume und Wege für Lösungen, die bis dato nicht denk- und sichtbar waren. Damit kann es die Eintrittskarte aus der Problemtrance in die Lösungstrance sein.
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