Die Tarotkarten werden oft der geheimnisvollen Welt der Weissagung zugeordnet. Doch das soll uns nicht davon abhalten, Tarot in Therapie und Coaching einzubeziehen. Mithilfe der traditionsreichen Abbildungen kann der Klient seine aktuellen Gefühle oder ein schwieriges Thema neu wahrnehmen oder sie differenzierter beschreiben. So findet er Kontakt zu seinem verborgenen inneren Wissen und zu seinem Lösungspotential. Das gibt Therapie oder Coaching neue Impulse und zusätzliche Intensität. Bilder eignen sich dafür besonders gut, weil sie anschaulich sind und direkt die Gefühle ansprechen.
Bevor ein Kind Worte versteht oder spricht, speichert sein Gedächtnis Bilder von allem, was es erlebt. Das hat mit unserer Entwicklungsgeschichte zu tun: Bevor unsere Vorfahren vor mehr als 5000 Jahren die ersten Schriftzeichen entwickelten, fertigten sie Bilder an, um sich mitzuteilen. Noch heute funktioniert unser bildhaftes Denken schneller als das Denken in Worten. Das liebste Plüschtier unserer Kindheit sehen wir als Bild sofort vor uns; es mit Worten zu beschreiben, dauert länger. Bilder sprechen unmittelbar unsere Gefühle an. Sehen wir ein Bild, fallen uns nacheinander weitere Bilder, Gefühle oder Gedanken dazu ein. Schließlich kommen wir bei einem vergessenen Erlebnis, einem geheimen Wunsch, einer verborgenen Angst an; sie stehen am Ende einer Kette unserer Assoziationen (lat. für Verknüpfung).
Die Arbeit mit Assoziationen in der Therapie verdanken wir dem Wiener Psychoanalytiker Siegmund Freud (1856-1939). Er ermutigte seine Patienten dazu, spontan alles auszusprechen, was ein Traumbild in ihnen auslöste. Diesen Vorgang nannte er freies Assoziieren. Er entdeckte, dass diese Methode das kritische Denken seiner Patienten umging, so dass bisher verdrängte Inhalte aus dem Unbewussten aufsteigen konnten.
Synchronizität: Immer die passende Tarot Karte in Therapie und Coaching
Heute nutzen Therapeuten und Coaches oft Bildkarten, um durch freie oder auch thematisch bezogene Assoziationen den Selbstfindungsprozess oder die Kreativität anzuregen. Dabei sind Anwender immer wieder überrascht, dass eine gezogene Bildkarte für den Klienten einen Zusammenhang zeigt zu dem, was ihn in dem Moment beschäftigt. Dieses Phänomen beschrieb der Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung (1875-1961) als Synchronizität – das Zusammentreffen eines äußeren Ereignisses mit einem inneren Erleben. Das mag anfangs mysteriös klingen, tatsächlich hat jeder schon Synchronizität erlebt: Gerade erinnerte man sich an sein liebstes Plüschtier aus der Kindheit – da entdeckt man eines, das genauso aussieht, im Schaufenster eines Geschäfts, das man sonst nie beachtet hat. Manche Menschen empfinden so ein Zusammentreffen bedeutsam, andere sehen darin nur einen Zufall.
Für die Arbeit mit Tarotkarten genügt es, Synchronizität für möglich zu halten. Therapeuten und Coaches können sich dafür öffnen und solche Zusammentreffen in ihrem privaten und beruflichen Alltag entdecken. Das ist förderlich, aber keine Bedingung. Ausreichend ist die Bereitschaft, eine gezogene oder gewählte Bildkarte als Resonanz auf eine innere Befindlichkeit des Klienten anzunehmen. Viele Coaches und Therapeuten beziehen abstrakte oder naturgetreue Abbildungen in ihre Konzepte ein. Es gibt Kartendecks, die speziell dafür entwickelt wurden. Sie zeigen Bilder verschiedener Lebensbereiche, Situationen oder Gefühlsqualitäten. Solche Darstellungen bieten uns auch die Tarotkarten, doch bringen sie zusätzlich eine Fülle an überlieferten Symbolen aus ihrer langen Geschichte mit.
Tarotkarten: Ein Schatz aus vielen Jahrhunderten
Zum Ursprung des Tarots gibt es unterschiedliche Annahmen. Kenner mystischer Traditionen entdecken in den Abbildungen Einflüsse der jüdischen Kabbala, der indischen Religionen und der Kultur der fahrenden Völker. Eine Legende des französischen Mystikers Pappus (1865-1916) erzählt, dass der Tarot vor Jahrtausenden im Alten Ägypten entstand: Die Weisen des Landes wollten den Wissensschatz des Volkes aus vielen Jahrtausenden bewahren, denn das Reich drohte zerstört zu werden. So wurde das gesamte Wissen auf Spielkarten gezeichnet und dem Volk übergeben. Die Weisen nahmen an, das Laster des Spielens und mit ihm die Karten würden die Veränderungen der Zeit überdauern. Diese Legende gilt als nicht belegt, ebenso wie der Bezug zu mystischen Traditionen. Doch das schmälert nicht die Faszination der Tarotkarten, die bis heute anhält. In Europa sollen sie erstmals im 14. Jahrhundert aufgetaucht sein.
Angekommen: Der Tarot erobert Europa
Als gesichert gilt: Im 15. Jahrhundert wurde das erste Tarotspiel (italienisch: Tarocchi) in Europa hergestellt. Den Auftrag dazu gab der Mailänder Herzog Filippo Maria Visconti (1392–1447), wahrscheinlich inspiriert von einer Idee seiner Tochter Bianca Maria (1425-1468).
Die Bilder gestaltete der mailändische Hofmaler Bonifacio Bempo (um 1420-1480). Das Tarotdeck enthielt 56 Karten zu je vier Farbsätzen sowie 22 Trumpfkarten ohne Namen und Nummerierungen. Aus den Farbsätzen gingen später die Skat- und Rommékarten hervor. Die 22 Trümpfe zeigten Mitglieder der Gesellschaft, bildeten charakterliche Qualitäten oder mythologische Inhalte ab. Hier einige Beispiele:
- Mittelalterliche Persönlichkeiten: Kaiser, Kaiserin, Papst
- Charakterliche Qualitäten: Kraft, Mäßigkeit
- Lebensthemen: Liebe, Tod
- Mythologische Inhalte: Auferstehung, Teufel, Rad des Lebens
Schon jetzt ahnen wir: Diese Bilder sind zeitlos, sie berühren in irgendeiner Form jeden Menschen. Inhalte, die alle Menschen aus verschiedenen Kulturen intuitiv verstehen, sind Archetypen. Carl Gustav Jung entdeckte die Archetypen und erforschte sie intensiv, indem er Mythen unterschiedlicher Kulturen studierte und die Menschen nach ihren Traumbildern befragte. Die archetypischen Darstellungen geben dem Tarot eine besondere Tiefe.
Lebendige Szenen: Große und kleine Geheimnisse
Die 22 Trümpfe werden auch große Arkana (lateinisch: Geheimnisse) genannt. Entsprechend gibt es die kleinen Arkana, die 56 Karten der vier Farbsätze. Wahrscheinlich dienten die Tarotkarten zunächst ausschließlich als Spielkarten. Erst ab dem 18. Jahrhundert wurden sie für die Wahrsagerei genutzt. Unterschiedliche Decks entstanden, die Trümpfe erhielten Namen sowie Nummern von 0 bis 22 und ließen sich so in eine bestimmte Reihenfolge bringen. Die kleinen Arkana zeigten zunächst ausschließlich abstrakte geometrische Darstellungen.
Ein bekanntes und bis heute beliebtes Tarotdeck ist das Rider-Waite-Tarot. Es entstand aus der Zusammenarbeit des Autors Arthur Eduard Waite (1857-1942) mit der damals bekannten Künstlerin Pamela Colman Smith (1878-1951). Herausgegeben wurde das Deck im Jahr 1910 von dem Londoner Verlagshaus Rider & Son. Erstmals zeigten hier die kleinen Arkana bildliche Szenen. Das machte die Karten lebendiger, so dass noch mehr Menschen sie für sich entdeckten.
Für Therapie und Coaching eignet sich deshalb dieses Tarotdeck besonders gut. Doch es kann auch jedes andere Tarot dafür verwendet werden. Man sollte lediglich darauf achten, dass die Gestaltung insgesamt freundlich und nicht zu düster ist. Außerdem sollte sich der Coach mit den Karten vertraut machen, ihre Symbolik studieren und im Rahmen eines Selbstcoachings eigene Erfahrungen mit ihnen sammeln.
Tarotkarten praktisch: Lösungsweg mit drei Karten
Die Tarotkarten können fester Bestandteil eines begleiteten Veränderungsprozesses sein und regelmäßig zum Einsatz kommen. Oder sie werden sporadisch eingesetzt, wenn Therapeut oder Klient die spontane Idee dazu haben.
Weiterhin überlegt sich der Therapeut vorher, ob er den Klienten anregt, die Karten zu ziehen oder auszuwählen. Entsprechend werden sie dann verdeckt oder offen ausgelegt. Beide Methoden haben Vor- und Nachteile, das richtet sich nach der Wesensart des Klienten. Erfahrungsgemäß öffnen sich durch das Ziehen der Karten gerade für rational betonte Menschen ganz neue Perspektiven. Die Methode kann auch im Laufe der Sitzung geändert werden, wichtig ist, dass sie sich für den Klienten stimmig anfühlt und dass der Therapeut offen für beide Varianten ist.
Bewährt hat es sich, eine Karte pro Gedankenschritt zu ziehen oder auszuwählen. Zum Beispiel:
- Karte Nr. 1 für das Anliegen oder die Frage
- Karte Nr. 2 für das gewünschte Ziel
- Karte Nr. 3 für die nächsten Schritte in Richtung des Ziels.
Besprochen wird jeweils eine Karte, dann die nächste. Danach setzt der Klient die Karten zueinander in Beziehung. Kommt man an einem Punkt nicht weiter, kann auch eine Ergänzungskarte hinzugenommen werden. Diese wird einzeln besprochen, ehe sie mit den anderen Karten in Zusammenhang gebracht wird. Das so entstandene Kartenbild kann der Klient mit dem Handy fotografieren und das Bild als Symbol für die Lösung seines Anliegens mitnehmen.
Klares Anliegen, leise Fragen: So gelingt die Sitzung
Allgemein hat sich folgender Leitfaden bewährt:
- Das Anliegen sollte klar formuliert werden. Dabei gilt: Ein Sachverhalt pro Anliegen. Nur so lässt sich eindeutig zuordnen, worauf sich die gezogene oder gewählte Karte bezieht.
Ungünstig: Wie kann ich meine berufliche Situation verbessern und endlich wieder zufrieden sein? Günstig: Wie kann ich im Beruf mehr Zufriedenheit erlangen?
- Der Klient hat genügend Zeit, die Karte auf sich wirken zu lassen. Dabei halten Therapeut und Klient auch längere Schweigephasen aus, in denen sich die Assoziation entwickeln kann.
- Der Therapeut begleitet, indem er immer wieder die Karte zu dem eingangs formulierten Anliegen in Bezug setzt. Dafür kann er offene Fragen stellen. Zum Beispiel: „Sie sagen, die Herrscherin wirkt auf Sie arrogant. Was genau bedeutet das für Sie?“
Oder „Wo begegnet Ihnen Arroganz im Beruf?“
- An geeigneter Stelle kann der Therapeut auf ein Detail im Kartenbild aufmerksam machen. Wenn der Klient ein Detail von sich aus erwähnt, kann der Therapeut dessen mythologische Bedeutung kurz erläutern.
Ein Beispiel für die Karte Der Stern (XVII): „Interessant, dass Ihnen der Vogel rechts im Bild gefällt. Das ist ein Ibis, er symbolisiert den Gott Toth, den Erfinder der Künste und der Schrift. Darin liegt ja viel Gestaltungsmöglichkeit. Wäre Ihnen diese im Beruf wichtig?“
- Der Therapeut bleibt offen für das Erleben des Klienten, er vermeidet Wertungen oder Urteile.
Der Prozess ist beendet, wenn der Klient aus einer oder mehreren Karten eine vorläufige Lösung für sich gefunden hat.
Fazit: Mit Tarotkarten neue Perspektiven finden
Die Tarotkarten bieten eine Fülle von Darstellungen und Symbolen, in denen der Klient sein Thema wiederfinden kann.
Durch die Arbeit mit den Tarotkarten lernt der Klient, seine körperlichen Reaktionen, Gedanken und Gefühle beobachtend wahrzunehmen.
Steht die Karte für ein Thema, das beim Klienten schmerzliche oder unangenehme Gefühle auslöst, kann er sich ausschließlich auf die Karte konzentrieren. Dabei distanziert er sich von den unangenehmen Gefühlen und findet leichter den Zugang zu seinem Lösungspotential.
Ein weiterer Vorteil der Karten ist der Prozess der Assoziation: Damit wird, wie weiter oben beschrieben, das kritische Denken umgangen. Beim Betrachten der Karte tauchen Erinnerungen auf, die bis dahin im Unterbewusstsein verborgen waren. Das kann die Perspektive erweitern. Der Klient entscheidet, wie weit er emotional in diese Erinnerungen eintaucht oder eher Distanz zu ihnen hält. Der Therapeut sollte hier keinesfalls drängend eingreifen.
Auch der Therapeut kann sich von den Tarotkarten inspirieren lassen und dem Klienten seine Ideen anbieten. Das kann den Prozess zusätzlich bereichern.