
Seit Menschen Gedenken beschäftigen sich Menschen mit ihrer Abstammung. Bereits mit dem Christentum, bzw. dokumentiert mit der Veröffentlichung der Bibel, beschäftigen sich Menschen mit der Frage, woher sie kommen und welcher Abstammung sie sind. Bekannt als Genealogie, allgemeinsprachlich auch als Ahnenforschung wird damit festgehalten, wer von wem geboren wurde. Ahnentafeln existierten bereits im Mittelalter und auch heute noch hat so manch einer zu Hause seinen Familienstammbaum samt Familienwappen und Bildern, um der Suche nach dem Ursprung nachzugehen.
Genogrammarbeit: Begründer*innen
Murray Bowen (1913-1990), Ivan Boszormenyi-Nagy (1920-2007) sowie Monica McGoldrick und Randy Gerson zählen zu Begründer*innen der Genogrammarbeit. Sie haben in der klinischen Arbeit mit Familien begonnen, eine eigene Zeichensprache zu entwickeln, mit der sie verschiedene Familien- und Sozialbeziehungen untereinander visualisierten. Mediziner*innen und klinische Therapeut*innen nutzten diese Methode erstmalig, um Muster von Ablösungsprozessen innerhalb einer Familie darzustellen. Hierdurch konnten sie unsichtbare Bindungen sichtbar machen und einen Überblick von den Familienmitgliedern, insbesondere von den älteren Generationen, erhalten. Monica McGoldrick und Randy Gerson griffen die Idee der Familienmuster, die über Generationen entwickelt werden, von Bowen auf und führten sie in das Genogramm ein (vgl. HILDENBRAND 2013: 93).
Wo und wann wird Genogrammarbeit eingesetzt?
Das Genogramm wird sehr häufig in der Kinder- und Jugendhilfe eingesetzt, aber auch Systemische Berater*innen und Familientherapeut*innen in eigener Praxis verwenden es im Kontakt mit ihren Klient*innen. Meist wird das Genogramm in einer therapeutischen Sitzung nach dem ersten Kontakt angefertigt, wenn die Therapeut*innen den Eindruck gewinnen, dass es nun möglich ist, etwas tiefer in die Familiengeschehnisse einzusteigen. Die Erstellung eines Genogramms ist also sehr nah an die Biografiearbeit angesiedelt. Es gibt die Möglichkeit, sich zu vergewissern, wo man im Leben steht.
Im eigenen Lebenszug ankommen
Bruno Hildenbrand vergleicht diese Herangehensweise mit der Erstellung eines Metro-Streckennetzes: „Ziel der Genogrammarbeit ist es, das Streckennetz der Metro zu rekonstruieren und nachzuzeichnen“ (HILDENBRAND 2018: 188). Das „Wo“ im Leben beziehe sich auf die Bahnhöfe im Streckennetz. Weiter schreibt er: „Für den, der Metro fährt, also im Fluss des Lebens ist, ist es sicher wichtig zu wissen, dass er in einer Metro sitzt, deren Streckennetz er kennt. Er kennt dann die Grenzen seiner möglichen Fahrziele“ (ebd.). Interessiert man sich für ein Ziel außerhalb dieses Streckennetzes, kann familientherapeutisch beispielsweise mit einer Familienaufstellung weitergearbeitet werden. In der Metapher wäre dies mit dem Umstieg in den Bus oder die Fernbahn vergleichbar.
Familiäre Muster sichtbar machen
Für den Therapie und Beratungsverlauf nutzen die Professionellen diese Methode also einerseits, um die betreffenden Personen und Familien kennenzulernen. Andererseits werden mit der Erstellung Muster und Verhältnisse deutlich, die der oder die Therapeutin als Hypothese nutzen kann, um eine erste Idee davon zu bekommen, was in der Herkunftsfamilie los ist. Sie erfahren, was die Großelterngenerationen sich erschlossen haben und welche Optionen im Leben möglich wurden, wie die Elterngeneration diese genutzt oder ungenutzt ließen und wie man selbst nun weiter im Leben voranschreitet und weitere Familien- und Lebensentwürfe fortsetzt, verwirft oder verändert.
Welche Daten werden im Genogramm aufgenommen?
Für die Erstellung eines Genogramms braucht es mindestens:
- Familienangehörige (von der Großelterngeneration bis zu den eigenen Kindern)
- Geburts- und Sterbedaten dieser Personen
- erlernte und ausgeführte Berufe
- Wohnort(e)
- schwere Schicksalsschläge/ Krankheiten/ Todesfälle/ Geheimnisse & Tabus…
Ferner kann es hilfreich sein, sozial- und gesellschaftspolitische Verhältnisse mit in das Genogramm zu schreiben, also geschichtliche Kontextfaktoren wie Kriege oder bedeutsam prägende Umwelteinflüsse mit aufzuschreiben, um herauszufinden, was die betreffenden Personen aus diesen Umständen haben bewältigen können. Grundsätzlich können auch alle weiteren Informationen, wie Beziehungen untereinander, besondere Talente etc. symbolisiert und eingetragen werden.
Symbolik der Genogrammarbeit

Genogrammarbeit lernen und anwenden können
Systemische Weiterbildungsinstitute bieten Kurse zum/zur Systemischen Berater*in an. Dort wird die Methode den professionellen Fachkräften immer beigebracht. Für die Erstellung selbst braucht es ein wenig Einarbeitung in die verschiedenen Symbole, die dazu gedacht sind in einer weitestgehend einheitlichen „Sprache“ zu bleiben. Als Teil einer familientherapeutischen Weiterbildung und zur Selbsterfahrung ist diese Methode also unerlässlich. Grundvoraussetzung für die Systemische Beratung und oder Familientherapie kann eine sozial-psychologische Grundausbildung (z.B. als Erzieher, Pfleger, usw.) oder ein sozialwissenschaftliches Studium sein, weil die Deutung und Interpretation der Daten ein geschultes, professionelles Auge braucht.
Literatur zur Genogrammarbeit und einführende Werke
Hildenbrand, Bruno (2011): Einführung in die Genogrammarbeit (3. Auflage). Heidelberg: Carl-Auer-Verlag.
Hildenbrand, Bruno (2013): Genogrammarbeit. In: M. Broda, W: Senf, B. Wilms (Hrsg.), Techniken der Psychotherapie. Ein methodenübergreifendes Kompendium. Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG.
Hildenbrand, Bruno (2018): Genogrammarbeit für Fortgeschrittene: vom Vorgegebenen zum Aufgegebenen. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.
McGoldrick, Monica; Gerson, Randy; Petry, Sueli (2009): Genogramme in der Familienberatung. 3., vollst. überarb. und erw. Aufl. Bern: Huber.
McGoldrick, Monica; Gerson, Randy; Petry, Sueli (2009): Genogramme in der Familienberatung. 3., vollst. überarb. und erw. Aufl. Bern: Huber.
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